Über den oft missbräuchlichen Umgang der Gelehrten mit den Schriften

Weil alle Weisheitsschriften denselben Lehrer bzw. Ursprung haben und über dieselbe Welt und dasselbe Leben darin sprechen, können sie sich grundsätzlich nicht widersprechen, sondern müssen miteinander im Einklang sein. Woher resultieren dann aber die vielen angeblichen Widersprüche, die man zu erkennen meint und die von den Gelehrten der jeweiligen Religionsgemeinschaften stets betont werden?

Die vermeintlichen Unterschiede in den Lehren der heiligen Schriften der Völker entstehen daraus, dass in den verschiedenen Weisheitstraditionen aus jeweils eigener Perspektive auf dieselbe natürliche und übernatürliche Ordnung geblickt wird und dass sie verschiedene Ebenen zum Ausgangspunkt der Weltbetrachtung nehmen. Denn alle vermeintlichen Widerprüche zwischen Einzelaussagen verschwinden, wenn man in seiner Betrachtungsweise zu höherer Allgemeinheit aufsteigt. Auf den unteren Ebenen ist die Welt so vielfältig und vielgestaltig, dass sich überall Unterschiede und wenn man will auch Widersprüche finden. Sieht man z.B. die verschiedenen Tierarten an, werden bei ihnen unzählige unterschieden. Geht man dann aber einige Stufen höher in der Betrachtungsebene, werden die Unterschiede schon deutlich weniger, denn dann ist der Hund ein Säugetier wie der Löwe und es gibt also auf dieser etwas höheren Ebene der Klassen keinen Widerspruch oder Unterschied mehr zwischen ihnen. So verhält es sich mit allen Dingen in der Welt, je allgemeiner man sie betrachtet, umso gleichartiger und weniger verschieden sind sie. Wer aber mit seinem Denken an den Einzeldingen klebt, findet sich überall mit Unübersichtlichkeit, Undurchsichtigkeit und Komplexität konfrontiert.

Auch in den religiösen Lehren lassen sich alle vermeintlichen Widersprüche auf diese Art auflösen. Ein Beispiel: Unter Religionswissenschaftlern unterscheidet man z.B. zwischen sogenannten dualistischen Weltsichten, die einen Widerstreit zwischen guten und bösen Mächten in der Welt wirksam sehen und sogenannten monistischen Ansätzen. Das Christentum oder der Zoroastrismus sollen dabei dualistisch geprägt sein, während Judentum und Islam monistisch sein sollen weil letztere als oberste Autorität nur den einen guten Gott kennen, der in seiner Allmacht keinen bösen Widersacher hat.

Diese Klassifizierungen, wie auch alle anderen Fachtermini, kommen in den Schriften selbst nicht vor, man begegnet ihnen nur in der wissenschaftlichen Sekundärliteratur der Religionswissenschaftler und anderen Gelehrten. Denn diese halten es für ihre Aufgabe, den Inhalten und Aussagen der Schriften irgendwelche Namen und Titel zu geben, wodurch sie angeblich eingeordnet und verständlicher würden. In der Realität bewirkt dieser Umgang mit den Schriften aber das genaue Gegenteil, denn diese Einordnungen klären die Grundtexte nicht auf, sondern verwirren und verdrehen sie, wodurch die vielen Widersprüche, die man dabei zu finden meint, erst entstehen. Denn den Wissenschaftlern, die an solchem Umgang mit den Schriften Gefallen haben, geht es nicht darum, zu verstehen, wie sich die Dinge in der Realität wirklich verhalten, sie wollen also nicht verstehen, wie die natürliche und die übernatürliche Welt tatsächlich aufgebaut ist, sondern es geht ihnen nur darum, sich in Fachdebatten oder Streitgesprächen als besonders kundig oder kenntnisreich zu erweisen. Sie wollen also nur zeigen, dass sie alle einschlägigen Begriffe kennen und viel zu der Thematik gelesen haben und wissen. Was die Schriften aber wirklich über die Welt sagen und wie sie sie beschreiben, ist für sie zweitrangig weil es ihnen eben nicht ums Verstehen der Weltordnung geht, sondern nur ums Kennen der in den Schriften enthaltenen Beschreibungen. Die Schriften reden also über die tatsächliche Ordnung der Dinge in der Welt, während die Schriftgelehrten in der Regel nicht über die Welt reden, sondern über die Schriften.

Der angebliche Unterschied zwischen vermeintlich monistischen und dualistischen Lehren lässt sich ganz einfach als nicht existent erweisen, wenn man sich die beschriebenen Ebenen ansieht. Denn laut Bibel ist Jesus ein Wesen mit göttlichem Ursprung, dessen Widersacher der Satan ist. Es gibt also, zumindest laut Neuem Testament, einen scheinbaren Kampf zwischen guten und bösen Mächten, denn der Satan ist hier der in verschiedenen Büchern erwähnte Antichrist. Auch im Neuen Testament ist Jesus aber nicht der oberste Gott und der Ursprung aller Dinge, sondern nur der erstgeborene Sohn Gottes, der Menschengestalt angenommen hat. Der Satan ist auch im Neuen Testament nicht der Feind des Vaters, sondern er befindet sich auch hier unter seiner vollständigen Kontrolle und wird, wie die Offenbarung des Johannes ankündigt, am Ende entmachtet. Da die Christen aber oft zu Jesus beten und ihn als Gott verehren, scheint es aus ihrer Sicht, als hätte Gott auf seiner Ebene einen Widersacher. Betrachtet man aber die ganze Lehre der Schriften, ordnet sich dieses Verhältnis widerspruchslos in das Gesamtbild ein. Die Widersprüche existieren nur in den Lehrsystemen der Theologen, in den Quelltexten selbst ist davon nirgendwo die Rede, denn diese erwähnen nur einen Antichristen, also einen Feind des Messias, den dieser überwinden muss, um seine Friedensherrschaft antreten zu können, keinen Gegenspieler Gottes, also des Vaters. Die Trinitätslehre der Kirchen, nach der der Messias, der Heilige Geist und der Vater gemeinsam einen dreieinigen Gott bilden würden, ist, so wie sie gelehrt wird, unbiblisch, also ein klassisches Beispiel für den hier beschriebenen Umgang der Gelehrten mit den Schriften. Man leitet Lehren aus ihnen ab, die sich so im Wortlaut nirgendwo finden und erhebt sie darüber hinaus noch zur unumstößlichen und unantastbaren Wahrheit, d.h. zum Dogma, weil man auf die Schriften selbst nicht verweisen kann, um diese Lehre zu stützen. Ähnliche Vorgehensweisen gibt es auch in den Traditionen von Juden und Muslimen.

Die Schriften beschreiben also verschiedene Ausschnitte aus der übernatürlichen Ordnung und setzen unterschiedliche Schwerpunkte und je nachdem, welcher Ausschnitt in einer Tradition im Vordergrund steht, scheint sich für die Ausleger eine leicht abweichende Weltsicht und Lehre zu ergeben. Diese steht aber nie im Widerspruch zu den übrigen Traditionen weil sie an den Stellen, an denen sie scheinbar abweicht, über andere Ebenen des (überweltlichen) Machtgefüges redet.

Wenn der Wille also da ist und Interesse daran besteht, lassen sich alle bisher stets betonten und oft aufwändig herausgearbeiteten Widersprüche leicht beseitigen, denn sie existieren in den Schriften selbst gar nicht und es lassen sich alle Weisheitstraditionen zu einem vollständigen, in sich stimmigen Gesamtbild vereinigen. Dabei muss man nur davon ausgehen, was die Schriften wirklich sagen und alle daraus abgeleiteten Klassifizierungen und Einordnungen, d.h. oft Umdeutungen, Sinnverengungen oder andere einseitige Festlegungen, der bisherigen Schriftausleger wieder vergessen, denn sie haben durch ihre Erklärungen nichts erklärt sondern den Sinn der ursprünglichen Schriften vernebelt und oft unkenntlich gemacht und im schlechtesten Falle sogar ersetzt. Denn durch die Jahrhunderte hindurch ist man nach und nach dazu übergegangen, nicht mehr die tatsächlichen Aussagen der Schriften für maßgeblich zu halten, sondern man nahm mehr und mehr die daraus mehr oder weniger stichhaltig abgeleiteten Lehren der Gelehrten als Glaubensgrundsatz an. Diese Praxis war lange in allen Traditionen üblich und man wird sich davon jetzt wieder abkehren und zu den Quellen zurückkehren.