Hat der Mensch einen freien Willen? Kann er frei wählen, was er tun will?

Die Antwort vorneweg: Einige haben einen freien Willen und er ist für jeden Menschen erreichbar.

Grundsätzlich gilt, dass der Mensch nichts ohne Motivation tut und er tut nur Dinge, von denen er einen Nutzen hat oder von denen er sich diesen verspricht. Dieser Nutzen kann ein praktischer sein (z.B. schleift man vor dem Schneiden von Gemüse oder Fleisch das Messer, damit das leichter von der Hand geht.) oder etwas seelisches, wie ein Zufriedenheits- oder ein Glücksgefühl (man geht z.B. in die Natur oder in die Berge wegen der guten Gefühle und Stimmungen die einen dort erfüllen. Schon Kinder wollen immer Dinge tun, die ‚Spaß machen‘.) oder die Deckung eines Bedürfnisses (z.B trinkt man, wenn man durstig ist).

Die Motivationen, die ihn zum Handeln animieren, erzeugt er dabei nicht selbst, sondern sie werden, wie alle Gedanken, alle Wünsche, Sorgen, Hoffnungen, Gefühle, Stimmungen, und alle anderen geistigen und seelischen Regungen eingegeben, d.h. sie fallen dem Menschen ein, wie man auch sagt. Würde der Mensch seine Bewusstseinsinhalte und Gemütsregungen selbst erzeugen, gäbe es keine unangenehmen oder quälenden, denn niemand würde sie sich erzeugen. Der Mensch kann diese Gemütsregungen nicht aktiv herbeiführen, nicht erzwingen und auch nicht immer ohne weiteres vertreiben, wenn sie mal da sind.

Im Falle von künstlerischer Inspiration wird das besonders deutlich, denn jeder Künstler, der sich selbst über sein Schaffen Rechenschaft ablegt, weiß, dass er nicht Schöpfer, sondern mehr Übermittler seiner Botschaften ist. Sie entstehen in ihm, er wird damit inspiriert und er kann sie, wenn sie mal eine Zeit lang ausbleiben, nicht bewusst willentlich erzeugen, was ein häufiger Grund von Schaffenskrisen und eine große Sorge aller Künstler ist. Denn wer kreativ ist, der ist in seiner Tätigkeit davon abhängig, dass ihm immer neue Inhalte durch Inspiration zufließen. Ebenso ist es auch mit allen alltäglichen Gedanken und Gefühlen, sie entstehen in uns, ohne dass wir darauf Mühe oder Aufmerksamkeit verwenden müssten, der Mensch ist immerzu von Gedanken und Stimmungen erfüllt ohne dass er sich darum kümmern müsste, so wie auch die Atmung und der Herzschlag und alle anderen Funktionen des Körpers von allein immer aktiv sind.

Es gibt in der neueren Literatur den Gedankenstrom als Stilmittel. Dadurch wird die Natur des Geistes künstlerisch veranschaulicht, denn der Geist des Menschen ist tatsächlich ein stetiger Strom, in dem die Inhalte dem Bewusstsein zu- und abfließen. Auch die Buddhisten, die jahrhundertelang mehr als andere Glaubensrichtungen die Natur des menschlichen Geistes ergründet haben, fassen den Geist als kontinuierlichen Strom von Inhalten auf, die nicht vom Subjekt, dem Ich, stammen. Sie halten das Ich deswegen für eine Illusion und vertreten die Position, dass es so etwas wie das Ich letztlich nicht gibt weil selbst die eigenen Gedanken und Gefühle, mit denen sich der Mensch identifiziert und die er für seine eigenen und innersten Regungen hält, nicht von ihm selbst erzeugt werden. Diese Ichlosigkeit (Anatta) gilt als die tiefste und verborgenste Einsicht, die sich durch Studium und Übung erlangen lässt und sie ist Gegenstand und Ziel vieler Meditationsarten.

Das, was die Menschen für ihr Ego halten (vermeintlich eigene Wünsche, Ängste, verkehrte und eitle Hoffnungen, die sich nicht erfüllen, Abneigungen usw.), ist also seinem Wesen nach eine Täuschung und Illusion, die durch die Eingebungen und Anreizungen der Dämonen, die für jemanden zuständig sind und die mit diesem sein Leben lang umgehen, erzeugt wird. Je mehr der Mensch diese dämonischen  Eingebungen in sich selbst niederringt und sich von diesen und ihrem Wirken unabhängig macht, umso klarer, deutlicher und realitätsnäher wird sein Blick und sein Verstand und umso wahrheitsgetreuer wird alle seine Erkenntnis. Menschen, die in diesen erzeugten Illusionen ganz gefangen sind, sind es in der Regel auch, die die Wirklichkeit generell zu bloßem Schein oder zur Illusion erklären.

Viele Denker, Forscher und Kulturschaffenden der Geschichte, die mit klarem Blick tief in sich selbst nach der Wahrheit über ihr eigenes Wesen geforscht haben, waren sich dieser Tätigkeit der Geister in ihrem Innern bewusst. So hat z.B. Goethe den Daimonion, der für einen Menschen sein Leben lang zuständig ist, mit seinem Charakter und seiner Persönlichkeit identifiziert und auch schon Sokrates war sich dieses seines Daimonions, von dem er u.a. innerlich viele nützliche Eingebungen erhielt, vollumfänglich bewusst. Wer die Vorgänge in seinem eigenen Innern verstehen will und auch wer sich sein Verhalten und das der anderen Menschen erklären will, kommt um diese grundlegende Einsicht gar nicht herum, denn ohne das Wesen seiner inneren Vorgänge und deren Ursprung zu kennen, kann man sich auch das, was einem tagtäglich aus diesen Quellen ins Bewusstsein zufließt, nicht widerspruchsfrei und vollständig erklären. Wer zu dieser Grundwahrheit einmal gekommen ist, der beginnt alle psychischen Phänomene und Regungen in sich selbst und in den Mitmenschen immer deutlicher zu verstehen und alles in einem selbst und um einen herum ergibt plötzlich Sinn und wird plausibel.

Der Mensch tut also nichts ohne Motivation, die in ihm je nach Situation, in der er sich gerade befindet, ohne sein Zutun erregt wird, was aber nicht heißt, dass er seinen Launen, Begierden, Trieben und Wünschen schutzlos ausgeliefert ist. Denn er hat die freie Wahl, welchen Impulsen er folgen will und welche Motive er zur Ausführung kommen lässt. Der Wille ist nicht identisch mit der Motivation, sondern durch den Willen entscheidet der Mensch, ob er eine Motivation bejaht und zur Handlung werden lässt, oder ob er sie abweist und in sich vor der Ausführung sterben lässt. Er hat sozusagen ein Vetorecht und eine Richtlinienkompetenz, was seine Motive angeht und er kann sich auch bewusst Veränderungen in seinen Handlungsgewohnheiten vornehmen und sich selbst Vorgaben machen die darüber entscheiden, welche Anreizungen ihn in Zukunft erreichen. Er kann dadurch indirekt auch Motivationen initiieren, indem er so die Grundlage für zukünftige Eingebungen und Einfälle schafft.

Je mehr ein Mensch seinen Gelüsten und eitlen Wünschen nachgibt, als umso stärker und zwingender werden diese zukünftig empfunden und der Mensch wird mehr und mehr Sklave seiner Begierden. Die Motivationen und Anreizungen werden dann irgendwann als so beherrschend empfunden, dass der Betroffene sie ausführen muss, um Ruhe zu finden, denn wenn er sie nicht erfüllt, quält ihn ein großes Verlustgefühl und er fühlt sich sehr unwohl, ärgerlich und getrieben. Diese Menschen sind es in der Regel, die den freien Willen des Menschen ableugnen, denn sie haben tatsächlich keinen mehr, sie kennen die Freiheit aus eigener Erfahrung nicht, es gibt sie aus ihrer Sicht nicht. Sie sind es meist auch, die die von solchen Zwängen freien Menschen als Sklaven von Geboten oder moralischen Normen ansehen, sie sehen in allen anderen die Unfreiheit, die sie aus ihrem eigenen Inneren kennen. Denn was der Mensch in sich selbst hat, das meint er auch in allen anderen zu erkennen und wovon das Herz voll ist, davon spricht der Mund. Ihre eigene Unfreiheit ist ihnen dabei nicht bewusst, sie halten es für ein großes Glück und für einen Vorteil, zu tun und in der Regel auch zu bekommen, was sie wollen. Denn sie halten die Antriebe und Wünsche, die in ihnen erregt werden und von denen sie durchs Leben getrieben werden, für ihre eigenen.

Wer dagegen gewissenhaft und achtsam mit seinen Motivationen umgeht, kann in der Regel frei entscheiden, was er tun will und je nach Situation und erwartbarem Nutzen, aus verschiedenen Möglichkeiten auswählen. Die, die sich von ihren Anreizungen leiten lassen, haben diese Wahl nicht mehr denn sie haben ihre Entscheidungsfreiheit verloren. Sie können nicht tun, was sie wollen, sondern sie müssen tun, was sie wollen. Sie verspüren dann kurzfristig oft eine Entlastung und Genugtuung, wenn sie wieder einer Anreizung nachgegeben haben und das Ziel ihrer Begierde erreicht haben. Langfristig verschlechtert sich ihr Zustand aber immer mehr und es treffen sie vermehrt alle Arten von Übeln wie Missgeschicke oder andere Ärgernisse und Unannehmlichkeiten. Weil diese Übel aber oft in ganz anderen Lebensbereichen auftreten als die Sünden, die jemand begeht, erkennen sie den Zusammenhang nicht und können nicht verstehen, woher ihnen das Unglück kommt. Sie beruhigen sich oft mit unsinnigen Trennungen und leeren Differenzierungen, sie sagen sich z.B. dass sie im Beruf vielleicht schlecht handeln, aber ein guter Familienvater seien, wodurch sie weiter in die Irre gehen, denn diese Trennungen und Unterscheidungen sind unsinnig denn es handelt sich in allen Bereichen immer um ihr eigenes Tun, für das sie so oder so verantwortlich sind.

Auch bei den freieren Menschen sind nicht alle Handlungen immer frei, so wie auch bei den eher unfreien nicht alle Handlungen gezwungen sind. Denn auch die eher Freien können zu etwas innerlich gedrängt werden, wenn Gott z.B. will, dass sie etwas bestimmtes tun. Für solche unfreien Handlungen werden sie dann aber nicht gerichtet, denn sie hatten keine Wahl, ob sie es tun wollen, sondern Gott handelte durch sie weil er etwas seinem Plan gemäß herbeiführen wollte. Politiker und andere einflussreiche Entscheidungsträger werden auf diese Weise in ihrem Regierungshandeln gelenkt, denn das Herz des Königs ist in Gottes Hand und er lenkt es wie einen Bach in die Richtung, die ihm gefällt.

Auch die eher unfreien Menschen sind nicht gänzlich Getriebene und sind nicht endgültig und völlig verworfen, denn auch sie stehen regelmäßig vor Richtungsentscheidungen, mit der Möglichkeit, sich grundlegend für einen anderen, besseren Lebenswandel zu entscheiden. Sie stehen dann jedesmal wie Herakles am Scheideweg und können sich frei entscheiden, wie sie weiterleben wollen. Auch werden die Gläubigen, die es gewohnt sind, eher gut zu handeln, immer wieder in Situationen geführt, in denen sie von ihrem guten Lebenswandel abkommen könnten. Das sind die Versuchungen, in die alle gläubigen Menschen immer wieder geführt werden, solange sie in dieser Welt sind. Wer ihnen widersteht, wächst in der Führung durch Gott und wird zunehmend rechtgeleitet, er festigt sich im rechten Tun und die Versuchungen werden seltener und weniger zwingend.

Wenn der Mensch einmal aus einem üblen Motiv handelt, entstehen zukünftig mehr Motive solcher Art und der Charakter dieser Person verdirbt dadurch. Denn das Handeln wirkt auch wieder auf den Charakter zurück und formt ihn dadurch, man entwickelt sich gut oder schlecht und jeder ist für alle seine Handlungen letztlich verantwortlich. Die Einsicht, dass jede Handlung Auswirkungen auf das zukünftige Wohlergehen des Handelnden hat, ist auch ein Kerngedanke der Karma-Lehre der östlichen Religionen.

Jeder kann seine Handlungsgewohnheiten jederzeit ändern, er wird am Ende dafür verantwortlich sein und es entscheidet für ihn über Leben und Tod, über Wohlergehen oder Leid.