Worin unterscheidet sich der Charakter der Tongeschlechter Dur und Moll? Warum gibt es diese beiden überhaupt?

 

1. Das Problem

Die Musiktheoretiker und Musiker haben bis heute keine überzeugende und allgemein akzeptierte Erklärung gefunden, warum es Dur und Moll in der abendländischen Musiktradition gibt. Die Komponisten bedienen sich tagtäglich in ihrem Schaffen der Tonarten und wissen, welcher Gehalt sich am besten in welcher Tonart ausdrücken lässt. Aber genau erklären, warum es diese beiden Geschlechter im Tonsystem gibt und worin sie sich ihrem Wesen nach unterscheiden und wodurch sie letztlich charakterisiert sind, kann man nicht.

In der Musik drücken sich vor allem Stimmungen, Empfindungen und Emotionen aus, also innere Vorgänge und Prozesse im Menschen. Sie wird hauptsächlich auch wieder mit dem Gefühl, also intuitiv verstanden.

Es muss den beiden Tongeschlechtern irgendetwas in der Welt entsprechen, sie müssen irgendwie aus der Wirklichkeit und der (menschlichen) Natur heraus erklärbar sein, denn zufällig oder willkürlich und abgelöst oder gesondert von der Welt können sie sich nicht entwickelt haben, weil sie sich als sehr brauchbar, nützlich und zweckdienlich erwiesen und bewährt haben. Es kann dafür auch keine rein innermusikalischen Gründe geben, denn der Hörer erkennt etwas davon in sich selbst wieder und die Unterscheidung von Dur und Moll wirkt stimmig und selbstverständlich, auch wenn es schwer fällt, sich über ihren Charakter und den Unterscheidungsgrund genau Rechenschaft abzulegen.

Die Musik richtet sich also an das Innere des Menschen, sie gibt keine äußeren Dinge im Raum wieder, wie die Malerei, sondern drückt Inneres aus und richtet sich auch wieder ans Innere. Beethoven stellte seiner Missa Solemnis das berühmte Motto voran: „Von Herzen – Möge es wieder zu Herzen gehen.“ Deswegen liegt es nahe, dass es auch Phänomene im Inneren des Menschen sind, die den Tongeschlechtern entsprechen.

2. Die Erklärung

Moll-Dreiklänge gelten als eingetrübt, leicht verschwommen und weich. Sie entsprechen damit den Emotionen und Gefühlen der Menschen, also allen seelischen Regungen, denn auch diese werden oft als verschwommen, nicht klar voneinander abgrenzbar oder umrissen und eher weich oder auch schwach oder schwächend wahrgenommen. Oft gehen einzelne Stimmungen fließend ineinander über, überlagern sich oder sind vermischt oder eingetrübt. Deswegen lassen sich lyrische oder intime Inhalte am besten in Moll-Tonarten ausdrücken. Stücke in Moll müssen nicht unbedingt traurig oder dunkel gefärbt sein, aber Stimmungen und Gefühle sind immer weich und nebulös, ohne klare Konturen und Grenzen, wie Melodien und Dreiklänge in Moll.

Im Denken hingegen, also in der Verstandestätigkeit im menschlichen Geist, werden stets Vorstellungen verknüpft, denn Denken heißt ja nichts anderes als Vorstellungen bzw. Begriffe zu verknüpfen. Vorstellungen und Begriffe sind klar voneinander unterschiedene und abgetrennte Sinneinheiten und Bedeutungsträger, die meist klar definiert und eindeutig bestimmt sind. Man spricht in diesem Zusammenhang oft von ‚Geistesklarheit‘, ‚Verstandes- ‚ oder ‚Gedankenschärfe‘ usw. Alles, was zum Verstand und dem Denken gehört ist also eher den Dur-Tonarten zuzuordnen denn ein Dur-Dreiklang wirkt klar, deutlich oder eindeutig und wird dadurch oft auch als hart empfunen. Deswegen stehen auch die meisten Symphonien und anderen Instrumentalwerke von Mozart und Haydn in optimistischem, festem D-Dur oder in starkem, strahlendem C-Dur oder anderen Dur-Tonarten. Denn die Künste geben immer den Zeitgeist ihrer Entstehungszeit wieder und die Zeit der Aufklärung, in der Mozart und Haydn komponierten, gilt als rationalitätsbetont und besonders zukunftsoptimistisch.

In der Zeit der Romantik kehrte sich dann dieses Verhältnis entsprechend um, die Musik wurde empfindungsbetonter, bewusst irrationaler und lyrischer und so stehen die sechs Sinfonien Tschaikowskys z.B., bis auf die Dritte, alle in Moll. Fast alle seiner bekanntesten Werke stehen in Moll, so auch das 1. Klavierkonzert in B-Moll oder das Klaviertrio in A-Moll. Tschaikowsky ist unter Musikhistorikern für seine Irrationalität berüchtigt und wird dafür oft auch kritisiert oder sogar abgelehnt. Viele Vertreter der russischen Kultur, vor allem die Dichter und Musiker, sind bekannt für ihre Irrationalität.

Man mag einwenden, dass auch das Denken oft unklar oder verworren und dass der Sinn oder die Bedeutung von Äußerungen oft verschwommen ist und dass die wenigsten, vor allem abstrakten, Begriffe eindeutig und allgemein anerkannt definiert sind. Ein Denken aber oder eine Rede, die nicht deutlich und klar ist, erweist sich bei näherer Betrachtung oft als sinnlos und leer weil sie gar keine Erkenntnis enthält. Denn Erkenntnis ist immer gekennzeichnet durch Klarheit, sie ist eindeutig und einfach. Was man versteht, erscheint einem immer einfach, denn etwas zu verstehen heißt ja, eine zutreffende, klare und deutliche Vorstellung von einem Sachverhalt zu haben. Wenn eine Rede oder ein Gedanke keine Erkenntnis enthält, handelt es sich also nicht um sinnvolles Denken und Reden sondern um eitles Geschwätz ohne Bedeutung, das zu meiden ist. Von Natur aus ist das Denken und die Sprache des Menschen deutlich, einfach und reich an Inhalt, wenn es undurchsichtig und unverständlich wird, handelt es sich immer um eine Form von Verstandesverderb oder einfach um Unvermögen. Wittgenstein schrieb in diesem Sinne in seinem ‚Tractatus logico-philosophicus‘ sinngemäß, dass sich alles, was überhaupt gedacht werden kann, klar gedacht werden kann und alles, was ausgesprochen werden kann, sich klar aussprechen lässt.