Gibt es nur eine Wahrheit oder kann es auch mehrere Wahrheiten geben?

Es kann in jeder wahrheitsfähigen Frage nur eine Wahrheit geben, weil eine Sache nur so sein kann, wie sie ist und nicht auch zugleich anders. Denn wenn etwas nur möglich ist, kann es viele Beschaffenheiten haben, ein Teller z.B., den man sich nur vorstellt, kann jede Farbe haben, die man ihm geben will. Dadurch dass etwas von der Möglichkeit aber in die Existenz gelangt, ist jedes Ding auf eine einzige Beschaffenheit festgelegt. Derselbe Teller kann zum selben Zeitpunkt nicht verschiedene Farben oder Formen haben und er kann nur an einem Ort im Raum sein. Wahrheitsfähige Aussagen, die Tatsachen feststellen sollen, können also nur entweder wahr oder falsch sein, man spricht laut Aristoteles wahr, wenn man sagt, dass das Seiende sei und das Nichtseiende nicht.

Weil es aber in der Praxis oft schwierig ist, die tatsächliche Sachlage sicher festzustellen, heißt es oft, dass die Dinge nicht schwarz oder weiß seien, sondern grau. Man macht hier den Fehler, den menschlichen Mangel in der Erkenntnisfähigkeit auf die zu erkennende Welt zu übertragen, denn auch wenn die Wahrheit im Alltag selten leicht festzustellen ist, so kann es doch immer nur auf eine Weise sein. Denn die wirklichen Dinge und Geschehnisse sind unabhängig von unserer Wahrnehmung und definitiv. Nur unser eigenes Bild von ihnen ist subjektiv und kann verzerrt oder uneindeutig sein.

Der Mensch stößt sehr schnell an seine Grenzen, wenn er versucht, wahre Aussagen über die Welt zu treffen, so gibt es in der Welt z.B. kein einziges Phänomen, das wissenschaftlich vollständig verstanden und erklärt wäre. Trotzdem haben die Dinge eine bestimmte Beschaffenheit, die sie auch dann haben, wenn diese vom Menschen nicht erkannt werden kann. Wenn die Wahrheit nicht erkannt werden kann, heißt das deshalb nicht, dass es sie nicht gibt, oder dass es gar mehrere gültige Interpretationen der selben Sache gäbe. Denn irgendwie ist es.

Anhand eines Beispieles wird dieser Sachverhalt, dass es letztlich immer nur eine Wahrheit geben kann, deutlicher: Ein Dreißigjähriger, ein Jugendlicher und ein 5-jähriges Kind sitzen im Kreis um einen Würfel herum und sollen sich über diesen unterhalten. Dazu soll jeder zuerst den Gegenstand beschreiben, um den es gehen soll. Der Dreißigjährige sagt, er sieht einen Gegenstand, dessen 6 Seitenflächen alle gleich groß und quadratisch sind. Der Jugendliche sagt, er sieht einen zwölfseitigen, dreidimensionalen Körper, dessen Seiten alle gleich lang sind. Das Kind sagt, es sieht einen Körper mit sechs gleich großen Vierecken an den Seiten. Jeder Gesprächsteilnehmer fasst den Gegenstand, um den es gehen soll, also anders auf und beschreibt ihn deswegen auch etwas anders. Es wäre aber absurd, zu behaupten, dass sie deswegen auch über einen anderen Gegenstand sprechen würden, denn sie alle beschreiben in ihrer Sprache und gemäß ihrem Vorstellungsrepertoire ja denselben Würfel. Ein Vertreter der Ansicht, dass es in jeder Frage viele Wahrheiten gäbe, würde aber genau das behaupten, er würde behaupten, es handele sich in jedem Fall um einen anderen Würfel. Meist behaupten Vertreter dieser Ansicht, es gäbe so viele Wahrheiten eines Sachverhaltes wie es Menschen gibt. Es ist aber eine absurde Aussage, zu behaupten dass es von derselben Sache mehrere gültige Wahrheiten nebeneinander geben müsste, nur weil sich die Menschen nicht auf eine gemeinsame Definition oder Beschreibung einigen könnten und sich jeder die Sache etwas anders vorstellt. Zudem gilt, dass es dafür, dass jeder Beobachter die Gegenstände der Sinne, d.h. die wahrnehmbaren Dinge in der Welt aus seiner subjektiven Perspektive betrachten kann, es eine zwingende Voraussetzung ist, dass diese Dinge unabhängig von unserer Wahrnehmung für sich selbst existieren. Denn wäre das nicht der Fall, dann könnten sie nicht aus den unterschiedlichen Blickrichtungen von verschiedenen Beobachtern betrachtet werden.

In solchen Fällen ist auch die Unterscheidung hilfreich, die Gottlob Frege in seinem Aufsatz über Sinn und Bedeutung getroffen hat. Denn verschiedene Aussagen mit unterschiedlichem Sinn können sich durchaus auf denselben Gegenstand beziehen, also dieselbe Bedeutung haben. Er veranschaulicht dieses Prinzip am Beispiel der Ausdrücke ‚Morgenstern‘ und ‚Abendstern‘. Die beiden Bezeichnungen haben einen unterschiedlichen Wortsinn, in diesem Fall sogar einen entgegengesetzten, aber dieselbe Bedeutung, denn beide Ausdrücke bezeichnen die Venus. Diese Unterscheidung lässt sich auf alle Fälle anwenden, in denen Menschen dieselbe Sache unterschiedlich auffassen oder in unterschiedlichen Worten beschreiben. Die Sache, über die man spricht, bleibt dabei immer dieselbe und die Wahrheit über diese bleibt sich gleich, unabhängig davon, wie man sie sprachlich fasst oder die dazugehörigen Begriffe definiert. Dieses Prinzip ist auf alle Fälle übertragbar, in denen über dieselben Sachverhalte unterschiedlich gesprochen wird, die Wahrheit bleibt also immer dieselbe, es geht immer um dieselbe Sache, im Beispiel den Würfel, die Menschen sind der Wirklichkeit in ihren Auffassungen dersleben nur unterschiedlich nah und man nähert sich ihr aus verschiedenen Richtungen und von verscheidenen Standpunkten aus. Wie es aber zuletzt wirklich ist, ist nicht von den unterschiedlichen Meinungen und Sichtweisen der Menschen abhängig, denn die Welt besteht unabhängig von den sie potentiell wahrnehmenden und denkenden Subjekten.