Im Matthäusevangelium (23, 24) wirft Jesus den Schriftgelehrten vor, sie seien Heuchler weil sie Mücken aussieben und Kamele verschlucken. Was ist mit diesem Bild gemeint?
Es gibt grundsätzlich zwei Arten von Geboten: Die offenbaren, leicht und sofort verständlichen und eindeutigen, die z.B. eine konkrete Handlungsweise untersagen, wie etwa das Lügen, Stehlen oder Töten. Um sich an diese Gebote halten zu können, muss man nicht viel verstehen, denn jeder weiß sofort, was damit gesagt ist.
Es gibt aber auch verborgenere Gebote, die sich nicht sofort erschließen, sondern für deren Verständnis es der Selbstkenntnis, der Besonnenheit und der Weisheit bedarf. Viele dieser weniger sinnfälligen Gebote sind in Gleichnissen oder anderen bildhaften Reden ethalten.
Unter den Menschen, vor allem unter denen, die als besonders gläubige oder gerechte Menschen gelten wollen, gibt es viele, die sich an alle offenbaren und deutlichen Gebote gewissenhaft halten und sich deswegen anderen Menschen in ihrer Rechtschaffenheit überlegen fühlen. Wenn sie auf einen treffen, der unter seinen Mitmenschen als Sünder gilt, weil er ein offenbares Gebot gebrochen hat, meiden sie ihn oder danken Gott innerlich, dass sie selbst vor solcher Verkommenheit bewahrt sind. Dieser selbstgerechte Dünkel, der heute unter religiösen Menschen weit verbreitet ist, wird von Jesus im Evangelium an mehreren Stellen scharf kritisiert.
Solche, die Andere nach dem äußeren Anschein bewerten und verurteilen, irren sich in ihrem Urteil meist, denn oft ist es so, dass Menschen, die sich nicht immer an die klaren Gebote halten, dafür die verborgeneren verstehen und diese befolgen. Sie verstehen die tieferen Forderungen, weil sie Weisheit haben, sich selbst beobachten und sich selbst gewohnheitsmäßig innerlich über ihr eigenes Tun Rechenschaft ablegen, was heute auch unter vielen Gelehrten weithin verachtet ist. Letztere schreiben sich solche in den Schriften erwähnten Tugenden zwar in der Regel selbst und gegenseitig zu, weil sie in den Schriften gelobt und gefordert werden, wenn aber im Alltag Weisheit gefragt ist, erweisen sie sich als unverständig und unfähig.
Denn die Weisheit wohnt in der Regel nicht bei Leuten, die sich auf ihre vermeintlichen Tugenden etwas einbilden und sich selbst für wertiger oder einsichtiger ansehen als andere, sondern sie wohnt bei solchen, die als eher einfach und bescheiden gelten und deren echte Tugenden heute meist belächelt oder verachtet werden auch von denen, die es eigentlich besser wissen sollten. So verstehen diese oft weniger gelehrten Leser der Schriften die tieferen Gebote intuitiv und halten sich daran, während andere, die gern mit ihrer Gelehrsamkeit und ihrem religiösen Wissen prahlen, solche Stellen selten stichhaltig und einleuchtend auslegen oder erklären können, wenn die Sprache darauf kommt, weil sie sich durch eine wahrheitsgetreue Auslegung ja auch selbst bloßstellen und als Heuchler entlarven würden.
Denn die Weisheit wohnt nicht bei den Eingebildeten, Hochmütigen und Verblendeten, die gerne abstrakte Begriffe nennen, die nach viel klingen aber wenig bis nichts aussagen, sondern bei denen, die die Dinge beurteilen, wie sie sind und nüchtern, klein und bescheiden im Geist sind. Deswegen erkennen auch die Gelehrten ihre eigene Beschreibung in den Schirften nicht und tun heute genau das, was in den Schriften, die sie anderen erklären sollen, als typisch für Heuchler und hochmütige Prahler beschrieben ist. Diese Verstandesblindheit und der Mangel an Weisheit und Einsicht findet sich heute bei den Gelehrten aller Konfessionen und Religionen.