Geschehensmuster sind metaphysische Wahrheiten

Die gängigste und am häufigsten vertretene Wahrheitstheorie ist die Korrespondenztheorie, nach der eine Aussage (Proposition) dann als wahr gilt, wenn die logische und grammatische Struktur der Aussage die tatsächliche Struktur eines Sachverhalts in der Wirklichkeit wiedergibt. Die Wörter oder Begriffe sind also in dem Satz logisch so verbunden wie die Dinge in einem Sachverhalt in der Wirklichkeit. Man spricht demnach wahr, wenn man sagt, dass das Seiende sei und das Nichtseiende nicht (Aristoteles). Auch alle anderen bisherigen Wahrheitstheorien sind eher ontologisch orientiert, d.h. sie nehmen die Wirklichkeit dem Dasein oder Nichtsein von Dingen im Raum nach in den Blick, sie sollen Sachverhalte erfassen, die bestehen oder nicht bestehen.

Es lässt sich, ausgehend von der Erkenntnis, dass es Geschehensmuster gibt, die sich in der Wirklichkeit wiederholen, darüber hinaus ein Wahrheitsbgriff entwickeln, der metaphysische Zusammenhänge erfasst, also nicht das Bestehen von Sachverhalten im Raum, sondern die Prinzipien von Geschehnissen und Prozessen in der Zeit. Die wiederkehrenden Geschehensmuster sind solche temporalen, matephysischen Wahrheiten. Viele Weisheitssprüche, wie sie sich z.B. in der Bibel finden, fassen ein solches Muster. Die Muster liegen dem Geschehen in der Zeit zugrunde, bestehen aber selbst außerhalb der Zeit, stehen fest und verändern sich nicht von allein. Sie vergehen nicht, wenn die Zeit voranschreitet, wie Tatsachen, sondern bleiben bestehen und bewahrheiten sich dadurch immer wieder zu verschiedenen Zeiten und an vielen Orten. Es handelt sich hierbei also um ewige Wahrheiten.

Auch die Literaturgattungen, in denen Handlung wiedergegeben wird, zielen auf solche Muster ab, denn die Literatur imitiert oder kopiert die Geschehnisse in der Welt nicht, wie Platon meinte, sondern die Dichtkunst verdichtet und reduziert das Geschehen auf das jeweils verwirklichte charakteristische Muster. Die Literatur geht also auf andere Weise auf Wahrheit und das ist auch der Grund, weshalb die Beschäftigung mit der Dichtung bildet. Wären die Handlungsstränge und Geschichten bloße Erfindung ohne Entsprechung in der Welt, würde die Beschäftigung mit der Literatur nicht bilden sondern nur unterhalten und wäre letztlich müßige Zeitvergeudung. Weil fast alle dieser Prinzipien in vielen verschiedenen Lebensbereichen wirksam sind, lassen sich zu Werken der Dichtkunst in der Regel auch viele verschiedene Deutungs- und Interpretationsansätze finden. So gibt es zu einem Text von Kafka z.B. eine religiöse Deutung, eine psychoanalytische, eine soziologische, eine juristische usw..

Platons vielzitierte und folgenreiche Dichterkritik in seinem ‚Staat‘ legt also einen falschen Wahrheitsbegriff zugrunde, er geht davon aus, dass in der Dichtung reale Sachverhalte imitiert und nachgeahmt oder abgebildet werden sollen, wie es seiner Meinung nach auch in der Malerei geschieht. Auch die Geschichtsschreibung hat es mit der Wiedergabe und Nacherzählung von Tatsachen und faktischem Geschehen zu tun. Die Dichtung dagegen verdichtet den Stoff und reduziert ihn auf die dem Geschehen zugrundeliegenden Muster, was, wie Aristoteles in seiner Poetik bemerkt, als ernster und philosophischer anzusehen ist als das Geschäft des Historikers, der nur Tatsachen sammelt.

Die Dichtkunst betreibt also Metaphysik, allerdings nicht wie Philosophie und Theologie in expliziter Rede, analytisch und mit Gründen, sondern mit gestalterischen und künstlerischen Mitteln. Die Literatur beschäftigt sich mit allen weisheitlichen Fragen des menschlichen Lebens, während die Geschichtsschreibung eher das politische Geschehen im Blick hat. Auch in der Geschichtsschreibung ist man natürlich bestrebt, die zugrundeliegenden, sich wiederholenden Muster ausfindig zu machen und die Verläufe zu deuten, doch geht man immer von Fakten und Tatsachen aus, nicht von fiktiver Handlung. In der Literatur werden die Muster nicht explizit benannt und bestimmt, sondern es werden Handlungen entworfen, die solche Muster möglichst rein und deutlich implizit enthalten. Erst eine Interpretation deckt das Muster auf und benennt es. Wenn es ein Geschehensmuster gibt, heißt das, dass ein Geschehen solcher Art in der Welt möglich ist und zu geschehen pflegt und noch nicht, dass es auch faktisch irgendwo so stattgefunden hat.

Die Geschehensmuster sind nähere Bestimmungen des Kausalitätsgesetzes, denn dieses sagt nur, dass jedes Geschehen in der Welt aus einer Ursache folgt, aber noch nicht, auf welche Weise dies im konkreten Fall geschieht. Für das Geschehen in der physikalischen Welt bestimmen die Gesetzmäßigkeiten, die oft in den bekannten Formeln formuliert sind, die man aus der Schule kennt, auf welche Weise die Geschehnisse in bestimmten Bereichen, unter bestimmten Bedingungen und Voraussetzungen auseinander folgen. Für das menschliche Leben und den Lebensalltag werden diese näheren Bestimmungen in den Mustern formuliert, oft in Form von Weisheitssprüchen, geflügelten Worten oder charakteristischen Sprachbildern und Metaphern.