Wie die menschliche Erfahrung zustande kommt und wie sie der Verstand zusammensetzt
(Dieser Abschnitt dürfte vor allem für Philosophen interessant sein, die mit Kants Argumentation und Terminologie bereits vertraut sind.)
Hier soll ein kurzer zentraler Abschnitt aus Kants Hauptwerk, der ‚Kritik der reinen Vernunft‘ erläutert werden, weil sich daran die Erzeugung der menschlichen Erfahrung durch den Verstand sehr schön erläutern lässt. Im Philosophiestudium wird dieses entscheidende Kapitel oft ausgespart, weil es den Lehrern zu ‚dunkel‘ ist und allgemein als unverständlich gilt. In dieser sogenannten ‚transzendentalen Deduktion der reinen Verstandesbegriffe‘ geht es Kant darum, aufzuzeigen, dass die ‚Kategorien‘, die er auch ‚reine Verstandesbegriffe‘ oder ‚Prädikamente‘ nennt, nicht aus der Erfahrung durch Abstraktion abgeleitet sein können, weil sie vor aller Erfahrung bereits dem Verstand zur Verfügung stehen müssen, weil durch sie die Erfahrung erst zustande kommt. Für Kant hat der Verstand keine andere Aufgabe, als die Erfahrung zu erzeugen, oder zu ermöglichen, wie er sich stets ausdrückt. Die Kategorien enthalten die Grundfunktionen des Verstandes, wie in der Folge erläutert wird.
In der ‚Kritik der reinen Vernunft‘ analysiert Kant das menschliche Erkenntnisvermögen und sondert dabei den Teil, der aus der Erfahrung stammt und zu dieser gehört, also empirischen Ursprungs ist, von dem Teil ab, der unabhängig von den empirischen Erkenntnisquellen ist und damit a priori, also von Beginn an, im erkennenden Subjekt selbst vor aller einzelnen Erkenntnis vorhanden ist. Diese Möglichkeit, in der Metaphysik zu apriorischer, also sicherer und objektiv gültiger Erkenntnis zu kommen, die von aller zufälligen Erfahrung unabhängig ist, ist für Kant von entscheidender Bedeutung dafür, dass die Metaphysik zukünftig den (angeblich) sicheren Gang einer Wissenschaft gehen könne. Das ist das Hauptziel für Kant, wenn er in seinem Werk das menschliche Erkenntnisvermögen zergliedert.
Die Erfahrung kommt nach Kant folgendermaßen zustande: Die Sinne liefern dabei die Rohdaten, die Wahrnehmungen der äußeren Dinge. Mithilfe der Verstandesbegriffe, also der Grundfunktionen, werden diese im Verstand dann verknüpft, wodurch ein Erfahrungssatz entsteht. Im Verstand liegen diese Daten aus der Wahrnehmung in Form von Vorstellungen bzw. Begriffen vor. Das Denkvermögen wird je nach Gegenstandsbereich ‚Verstand‘ oder ‚Vernunft‘ genannt. Als Verstand befasst es sich hauptsächlich mit den konkreten Dingen in der Außenwelt und erzeugt aus deren Wahrnehmung die Erfahrung, während die Vernunft es mit abstrakten Begriffen und Ideen zu tun hat. Denken heißt nichts anderes, als Vorstellungen zu verknüpfen und die Art und Weise, also die Regeln, nach denen diese verbunden werden, sind in Kants Kategorientafel gesammelt.
Ein Beispiel: Wenn man den Lichtschalter betätigt, geht das Licht an. Das sind zunächst zwei einzelne Wahrnehmungen, die noch nicht zusammenhängen und für das Erkenntnisvermögen noch nichts miteinander zu tun haben müssen. Durch die Anwendung der Kategorie von Ursache und Wirkung entsteht dann das Erfahrungsurteil: Wenn man den Lichtschalter betätigt, geht das Licht an. Auf analoge Weise entstehen alle Erfahrungsurteile und jede Kategorie hat dieselbe Funktion in ihrem jeweiligen Anwendungsbereich. Die Kategorien enthalten also die fundamentalen und nach Kant auch alle möglichen Operationen des Verstandes, d.h. die Arten der Verbindung von einzelnen Vorstellungen.
Ein anderes Beispiel: Durch die Begriffe von Substanz und Akzidens wird ein Ding als solches erkannt, denn jedes Ding wird aufgrund seiner gattungs- bzw. arttypischen und charakteristischen Eigenschaften als das erkannt, was es ist. Die einzelnen Eigenschaften sind dabei zunächst einzelne Wahrnehmungen, die in Rohform nicht verbunden sind. Erst durch die Kategorie werden sie als Eigenschaften eines einzigen Dinges erkannt, das diese als Eigenschaften aufweist. Alle Dinge und Zusammenhänge in der Welt werden also durch den Verstand als das erkannt, was sie sind. Wenn man z.B. einen Stuhl sieht, sieht man zunächst vier senkrechte Stangen, die Stuhlbeine, eine waagerechte Fläche, die Sitzfläche und die senkrechte Lehne. Dadurch, dass der Verstand die Kategorie von Substanz und Akzidens auf die Einzelwahrnehmungen anwendet, wird erkannt, dass es sich um ein Ding, einen Stuhl, mit den genannten Eigenschaften handelt. Ohne die Kategorie, die im Verstand dazu bereits vorliegen muss, wäre der Stuhl nicht als solcher erkennbar, denn die Einzelwahrnehmungen könnten vom Verstand nicht auf diese Weise zusammengefügt werden.
Etwas zu verstehen oder zu erkennen heißt, eine klare und realitätsgetreue Vorstellung von einem Ding oder einem Sachverhalt zu haben. Durch die Begriffe, die dem Menschen dazu gegeben sind, die also dem Verstand zur Verfügung stehen und die er damit in seinem Denken benutzen kann, ist dem Menschen von Gott vorgegeben, welche Arten von Sachverhalten unter den Dingen in der Welt er verstehen und begreifen kann. Denn wenn der Mensch einen Verstandesbegriff nicht hat, kann er den entsprechenden Zusammenhang in der Welt nicht begreifen. Dadurch ist dem menschlichen Erkenntnisvermögen Umfang und Grenze bestimmt. Denn wovon dem Menschen kein Begriff gegeben ist, das kann er auch nicht denken. Den Anhängern der verschiedenen Religionen sind teilweise unterschiedliche Begriffe gegeben, ihr Geist unterscheidet sich in manchen Details, wodurch sie manche Einzelheiten der Lehre anders auffassen. Deswegen erscheinen den Juden z.B. viele Glaubensinhalte und Deutungen der Christen und Muslime als widersinnig oder fremdartig-befremdend und unfasslich. Viele Christen wiederum haben Probleme damit, den Koran zu verstehen, er stößt sie innerlich ab.
Man kann sich die beschriebene, synthetische, d.h. verknüpfende Verstandestätigkeit folgendermaßen anschaulich machen: Man hat zwei Punkte auf einem Blatt Papier, die zunächst nicht verbunden sind. Die Punkte symbolisieren die rohen, einzelnen Sinnesdaten, die im Verstand als Vorstellungen gegeben sind. Erst wenn man die Punkte durch eigene Tätigkeit verbunden hat, können sie auch als verbunden erkannt werden. Die Verbindung geschieht im Verstand mithilfe und nach Art der entsprechenden Kategorie, bei den Punkten dadurch, dass eine Linie zwischen den Punkten gezogen wird. Die Verbindung nennt Kant ‚Synthese‘, während in der danach möglichen ‚Analyse‘ nur noch erkannt wird, dass und auf welche Weise die Punkte (bzw. Vorstellungen) verbunden sind. Weil die Synthese vor der analytischen Erkenntnis der Verbindung bereits im Verstand stattgefunden haben muss, muss die Synthese der Analyse vorhergehen denn die Vorstellungen oder Punkte können erst dann als verbunden erkannt werden, wenn die Verbindung bereits zuvor durch eine eigene Handlung stattgefunden hat.
Deswegen können die reinen Verstandesbegriffe, die, wie gesagt, die Art der jeweiligen Verbindung enthalten, nicht aus der Erfahrung abgeleitet sein, denn die Erfahrung kommt ja durch sie erst synthetisch zustande, wie in dem Beispiel vom Lichtschalter beschrieben. Sie ermöglichen also die Erfahrung erst. Damit ist erwiesen, dass die Kategorien vor aller Erfahrung, d.h. a priori dem Verstand bereits zur Verfügung stehen müssen, denn in der Analyse erkennt das Denken nur noch seine eigene Tätigkeit, die nur erkannt werden kann, wenn sie zuvor bereits stattgefunden hat. Der Erkenntnis nach wird sich das Bewusstsein der Kategorien also aus der analytischen Betrachtung der fertigen Erfahrung bewusst, denn nur auf diesem Weg erfahren wird überhaupt von ihrem Vorhandensein. Direkt, als im Geist vor aller konkreten Verstandestätigkeit bereits vorliegend, können sie nicht erkannt werden, sie sind für den inneren Sinn des Menschen unsichtbar, befinden sich gleichsam im dunklen Hintergrund und in einem für das Bewusstsein unzugänglichem Bereich. Denn so wie alle Sinne, wie z.B. das Sehvermögen, sich nicht selbst zum Gegenstand haben können, so kann sich auch der Verstand nicht selbst zum Gegenstand machen. Die Kategorien liegen aber aller menschlichen Verstandestätigkeit zugrunde. Der Existenz nach müssen sie also aus den genannten Gründen im Verstand schon vor aller Erfahrung vorliegen, damit sie dem Verstand für seine synthetische Tätigkeit unter anderem zur Erzeugung der Erfahrung zur Verfügung stehen.
Man kann sich dieses Argument Kants für die Apriorität der Kategorien auch anhand eines Kuchens verdeutlichen, dessen Zutaten nicht aus dem fertigen Kuchen entnommen sein können, weil sie zuvor schon vorhanden sein müssen, weil der Kuchen ohne sie gar nicht erst zustandekommen kann. Genauso müssen die Kategorien schon vor der Erfahrung vorhanden sein und können nicht aus der fertigen Erfahrung erst gewonnen werden, weil sie zu deren Bildung bereits benötigt werden. Es zeigt sich, dass die Erfahrung also die Erkenntnisart ist, die Einzelbeobachtungen ,zusammenrechnet, wie es im Buch Kohelet (7,25) der Bibel heißt.
Wie Kant zutreffend sagt, handelt es sich hierbei nicht um einen formallogischen Beweis, sondern nur um eine stichhaltige Begründung, die sich aber, man kann es drehen und wenden wie man will, nicht abweisen oder widerlegen lässt. Es muss so sein, wie er sagt.
Grundsätzlich gilt, dass logische Beweisführungen eine Erkenntnis oder Position nicht sicherer machen, sondern es handelt sich dabei lediglich um ein rhetorisches Mittel, die dargelgte Argumentation für den Leser überzeugender zu präsentieren. Denn jeder formallogische Beweis kann, auch wenn er formal richtig geführt ist, danach in seinem Ergebnis immer noch inhaltlich zutreffen oder falsch sein. Diese Figuren garantieren also keine Sicherheit in der Erkenntnis sondern dienen nur der Darstellung und Präsentation einer Lehre.
Schopenhauer, der ein großer Verehrer Kants war, hat diesen Abschnitt offenbar auch nicht genau gelesen, denn er hielt die ‚transzendentale Ästhetik‘ für Kants bleibende Leistung. In der transzendentalen Ästhetik bringt Kant jeweils zwei formallogische Beweise dafür, dass Raum und Zeit nicht unabhängig vom Subjekt existieren würden, sondern von diesem erzeugt und der Wirklichkeit dadurch vorgeschrieben seien.
Diese angeblich sicher bewiesene Behauptung lässt sich durch die Realität leicht widerlegen, denn wenn Raum und Zeit wirklich nur im Subjekt als reine Anschauungsformen existieren würden und nicht in der Außenwelt, müsste es jeweils eine seelische oder geistige Störung geben, in der dem Menschen diese Anschauungsformen genommen oder gestört sind. Denn alle Teile und Qualitäten des Geistes und des Gemüts können gesund oder gestört sein, zu jeder Funktion von Körper und Geist gibt es den Fall, dass sie ausfällt, was man dann ‚Krankheit‘ nennt.
Eine solche Krankheit oder ein solches Symptom gibt es aber im Katalog der WHO nicht, es kann nur die Orientierung in Raum und Zeit verloren gehen, die Räumlichkeit und Zeitlichkeit der Realität geht aber nie verloren. Hier liegen Kant und sein Bewunderer Schopenhauer also offenbar falsch, denn die sicher geglaubten logischen ‚Beweise‘ sind durch einen einfachen Verweis auf die Realität widerlegt. Schon Kants Zeitgenossen empfanden diesen sogenannten ‚transzendentalen Idealismus‘ als widersinnig und er ist es auch, weil er mit der Realität und damit auch mit der Intuition und dem gesunden Menschenverstand nicht übereinstimmt. Kant sprach im Zusammenhang mit seiner dadurch in der transzendentalen Ästhetik vollzogenen Umkehrung der bisherigen Denkungsart von einer ‚kopernikanischen Wende‘, offenbar handelt es sich dabei aber nicht um einen Akt der Aufklärung, sondern eher um einen Akt der Verwirrung und der Verundeutlichung der Wahrheit.
An den Universitäten wird vor allem das erstgenannte Kapitel über die Apriorität der Kategorien, wie gesagt, oft wenig behandelt oder übergangen, weil sich offenbar niemand die Mühe macht, die abstrakten Erläuterungen und Begründungen Kants auf alltägliche Beispiele anzuwenden. Es handelt sich meines Erachtens aber um die beste Stelle des Werkes, weil es offensichtlich stimmt, was er darin sagt.